WICHTIGE URTEILE

„Kontaktlose“ sexuelle Belästigung

Eigentlich besagt die juristische Theorie, dass bei jeder Kündigung – also auch bei einer fristlosen – kein Automatismus bei Kündigungsgründen vorherrschen darf, sondern immer im Einzelfall zu entscheiden ist. Die Arbeitswelt hat aber ein Bedürfnis, sich zumindest an Fallgruppen orientieren zu können. Damit könnte man wenigstens einigermaßen verlässlich voraussagen, welche Kündigung bei Gericht durchgeht und welche nicht (Bundesarbeitsgericht (BAG), 20.5.2021, Az. 2 AzR 596/20).

Michael Tillmann

22.10.2025 · 1 Min Lesezeit

Der Fall: Ein Mitarbeiter in einem produzierenden Betrieb zog während einer Nachtschicht einem Kollegen die Hose mitsamt der Unterhose herunter, sodass die Genitalien des Kollegen für die anderen Kollegen sichtbar wurden. Daraufhin kündigte ihm der Arbeitgeber fristlos, ohne ihn zuvor abzumahnen.

Die Entscheidung: Das BAG stellte klar, dass eine Prüfung einer fristlosen Kündigung grundsätzlich immer in 2 Stufen zu erfolgen habe. In der ersten Stufe gehe es darum, ob ein bestimmtes Verhalten „an sich“ einen Grund für eine fristlose Kündigung darstellen könne. Das sei hier gegeben. Auch wenn der Mitarbeiter die Genitalien des Kollegen nicht berührt habe, handle es sich um eine sexuelle Belästigung. Es komme dann in einer 2. Stufe immer grundsätzlich noch auf die Umstände des Einzelfalls an.

Je nach Schwere des Vorwurfs könne aber auch in einem langjährigen Arbeitsverhältnis eine fristlose Kündigung gerechtfertigt und keine nähere Abwägung mehr erforderlich sein. Die konkreten Umstände müsse das Landesarbeitsgericht noch weiter aufklären.

Fazit: BAG setzt der Abwägung faktisch Grenzen

Das BAG hält zwar formal an seinem „2-Stufen-Konzept“ fest, eröffnet aber den Instanzgerichten im Ergebnis wohl die Möglichkeit, bei schweren Fällen die eigentlich bei jeder Kündigung erforderliche Interessenabwägung am Ende faktisch außen vor zu lassen. Das BAG stellt mit diesem Urteil klar, dass man sich nicht bei jedem Verhalten als Mitarbeiter*in durch eine lange Betriebszugehörigkeit oder sonstige Umstände noch vor einer fristlosen Kündigung „retten“ kann.

Wie hat Ihnen dieser Artikel gefallen?

0
0

119
0
11
Seit mittlerweile mehr als 20 Jahren beschäftige ich mich mit dem Arbeitsrecht von A wie Abmahnung über K wie Kündigung bis Z wie Zeugnis. Gesetzgeber und Rechtsprechung sorgen dafür, dass […]

Ausgaben

Ausgaben

Mitarbeitende Aktiv Vertreten